Agile Produktentwicklung und klassischer Qualitätsarbeit: 7 Ansatzpunkte zur wirksamen Kombination
17/11/2018

Seit etwa zehn Jahren nehmen wir in etlichen etablierten Industrieunternehmen den Wunsch zur agilen Transformation wahr. Hintergrund ist der Wunsch, durch agile Produktentwicklung im hoch kompetitiven internationalen Umfeld schnell, flexibel und innovativ zu bleiben. Gleichzeitig sollen Prozesse und Strukturen in der F&E stetig optimiert werden, um die Reife des Outputs kontinuierlich zu verbessern. Denn letztlich ist es die Qualität im Sinne von funktionaler Güte, Anmutung, Langlebigkeit, sauberer Verarbeitung und Fehlerfreiheit, die Kunden und Märkte überzeugt. In diesem Kontext führten wir diverse Projekte und Programme zur Verbesserung der Produktqualität in der F&E und in angrenzenden Funktionen durch.
Doch wie lassen sich die aktuellen Herausforderungen des von Schnelllebigkeit geprägten Marktes am besten bewältigen? Wie lassen sich die Stärken von klassischer Qualitätsarbeit und agiler Produktentwicklung kombinieren?
Klassische Qualitätsarbeit in der Produktentwicklung
Die klassische Qualitätsarbeit bildete sich vor allem im Realisieren großer, komplexer und stark arbeitsteiliger Systeme wie Automobile, Flugzeuge, Satelliten etc. aus. In der Regel setzt Qualitätsarbeit vor allem in der Serienentwicklungsphase, Produktion und im Betrieb an, um
- kundenwerte Produkteigenschaften wie z. B. Zuverlässigkeit zu unterstützen
- das Einhalten von gesetzlichen Anforderungen sicherzustellen
- Risiken zu minimieren sowie
- das Konvergieren zu einem fest definierten Endziel zu unterstützen.
Ein weiterer Fokus liegt auf dem systematischen Erheben, Analysieren, Dokumentieren und Zurückführen von Lessons Learned aus den Problemen im Feld, und darauf, eine kontinuierliche Verbesserung voranzutreiben – sowohl produkt-, serviceseitig als auch entwicklungsprozess- und fertigungsprozessseitig. Die Grundgedanken in der klassischen Qualitätsarbeit sind in der Regel, dass Risikominimierung, Einhaltung von Prozessen, Regeln und Standards hochwertige und anforderungskonforme Produkte hervorbringen.
Darin liegen auch die Stärken der Qualitätsarbeit. Vor allem unter weitgehend verstandenen und berechenbaren Rahmenbedingungen unterstützen z. B. eine Reifegradlogik mit Quality- Gates, Qualitätsstandards und systematische Problem- und Risikomanagementprozesse die Beherrschbarkeit anspruchsvoller Entwicklungsvorhaben.
Allerdings sehen sich Qualitätsrollen in Unternehmen immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, den Entwicklungsfortschritt durch übertriebene Prozesstreue und Formalisierung unnötig zu hemmen. Der Anspruch auf absolute Vollständigkeit hinsichtlich Spezifikation, Anforderungserfüllung und Nachweisbarkeit sowie eine risikovermeidende Haltung prägen oft eine bürokratische und änderungsaverse Kultur aus.
Agile Ansätze in der Produktentwicklung
Agile Ansätze setzen vor allem dann an, wenn Ziele und Rahmenbedingungen unscharf und volatil sind. Im Vordergrund agiler Produktentwicklung stehen Flexibilität, Geschwindigkeit und Lernen. Um die Reaktionsgeschwindigkeit von Organisationen zu erhöhen, richten sich Entwicklungsteams „self-empowered“ auf die kundenwerten Anforderungen bzw. Top-Features anstatt auf ein Detail-Lastenheft aus. Um die Lerngeschwindigkeit zu erhöhen, schaffen iterativ-inkrementelle Vorgehensweisen Raum für neue Ideen und Impulse sowie für frühes Erkennen und Beheben von Fehlern. Die enge Zusammenarbeit in Teams fördert die Vernetzung der Mitarbeiter und deren Wissen. Die Kundenstimme wird so eng wie möglich in die Entwicklung integriert, um schnell auf geänderte Wünsche und Rahmenbedingungen reagieren zu können.
Die Stärken agiler Ansätze, wie z. B. Scrum, liegen in der Anpassungsfähigkeit an ein unklares oder sich änderndes Umfeld. Fokussierte Teams, mit dem Mandat zu lernen, zu gestalten und zu entscheiden, bieten das Potenzial, überlegene Lösungen zu generieren. Die Ausrichtung auf Top-Features und maximale Kundenorientierung gewährleistet den Fokus auf das Wesentliche, den Kundenwert.
„Better done than perfect“ als eine Devise agiler Produktentwicklung findet zwar ihre Berechtigung in hochdynamischen Märkten, birgt aber auch Risiken, insbesondere für klassische Industrieunternehmen, die sich über Premium-Produkte als Qualitätsführer differenzieren. Haupt-Features alleine genügen hier nicht für eine wettbewerbsfähige Qualitätswahrnehmung.
Best of Both Worlds: neue Wege in der Produktentwicklung
Die erfolgreiche Kombination aus klassischer Qualitätsarbeit und agiler Produktentwicklung kann sich unserer Erfahrung nach zu einem entscheidenden Wettbewerbsfaktor entwickeln. Für die dafür notwendige Neuausrichtung sowie Optimierung von Entwicklungsprozessen und -organisationen sehen wir folgende sieben Ansatzpunkte, jeweils mit Praxisbeispielen:
1) Architektur- und Systemqualität mit klarer Verantwortung in den Fokus rücken
Ein Motorradhersteller strukturiert sein Produkt in generische Module, die jeweils einen Baukasten mit abgesicherten Modulvarianten bzw. kombinierbaren Modulelementen in einer „Regallogik“ beinhalten. Zugehörige, in einem x-funktionalen Baukastengremium vereinbarte Qualitäts- und Integrationsstandards unterstützen die Stimmigkeit bezüglich der Qualitätsziele im Systemverbund. Jedes Modul wird durch einen Modulverantwortlichen mit Gestaltungsmandat, Ergebnis- und integrierter Qualitätsverantwortung vertreten.

2) Kritische, kundenwerte Anforderungen identifizieren und im Entwicklungsablauf priorisieren
Elon Musk‘s SpaceX, aber auch ein innovativer Hausgerätehersteller mit IoT-Lösungen fokussieren die Entwicklung auf Top-Features und Key-Design-Parameter anstelle auf lange Lasten- und Pflichtenhefte, um eine voll auf die Kundenbedarfe ausgerichtete Lösung zu erzeugen. Optimierungsiterationen der Designparameter werden anschließend genutzt, um die vollständige Produktreife in kurzer Zeit und mit wenig Aufwand herzustellen.
3) Testaktivitäten in frühen Entwicklungsphasen intensivieren und integrieren
„First test, then design“ ist die Devise eines Herstellers für industrielle 3D-Druckanlagen. Um einen Raum zu schaffen, in dem Fehler erlaubt, neue Ideen erprobt und Grenzsituationen schnell getestet werden können, werden Prüfstände für die Entwicklung bereitgestellt und um virtuelle Simulationsmöglichkeiten ergänzt. Gewonnene Erkenntnisse werden kontinuierlich gesammelt, bewertet und als Verbesserungsmaßnahmen mit ausgewiesenem Chancen- und Risikopotenzial in kurzen Takten in frühe Entwicklungsphasen eingesteuert.
4) Über Simulation, Rapid Prototyping und Test-Automatisierung schnell absichern
Im Automobil-, Luft- und Raumfahrtbereich ist ein klarer Trend in Richtung virtueller Prototypen und Absicherung erkennbar, um die sehr hohen Hardwarekosten einzusparen und den Produktentwicklungsprozess zu beschleunigen. Rapid Prototyping für dennoch benötigte Hardware unterstützt die schnelle Absicherung. Testautomatisierung ist im reinen Softwarebereich seit Langem etabliert, gewinnt aber zunehmend auch für mechatronische Umfänge an Bedeutung. Insbesondere für variantenreiche Produkte und Einsatzszenarien ist Automatisierung und in Zukunft auch die Einbindung lernender Algorithmen nahezu unumgänglich, um Komplexität zu beherrschen.
5) Umfeld für kontinuierliche Verbesserung, Systemverständnis und Lernen schaffen
Ein flächiges Selbstverständnis für kontinuierliche Verbesserung ist nicht mehr nur ein Phänomen japanischer Unternehmen. Ein erfolgreiches deutsches Automobilunternehmen setzt darauf, in der Breite der Entwicklungsmannschaft Systemverständnis zu fördern, Zusammenhänge
zu erkennen und damit zu motivieren, Unstimmigkeiten bereits früh aufzulösen. Dazu werden neben gezielten Systems Engineering Trainings regelmäßig Mitarbeiterrotation aktiv gefördert und „T-Shape“-Kompetenzprofile aufgebaut. Offene Projektflächen und einladende Meeting-Spaces ermöglichen kurzfristige Abstimmungen und fördern die fachbereichsübergreifende Vernetzung.
6) Inhaltliche Führung, Servant Leadership und Qualitätskultur stärken
Ein Mischkonzern mit breitem Produktspektrum treibt aktuell die agile Transformation in seinen Divisionen voran. Dennoch wird höchste Qualität als ein wesentlicher Unternehmenswert, weiterhin im Top-Management und unter den Mitarbeitern hochgehalten. Inhaltliche Führung und Servant Leadership als Führungsprinzipien betonen die Ausrichtung auf wertige, anstatt auf „politische“ Lösungen. Unterstützend bilden z. B. Methodenexperten systematisch Mitarbeiter unterschiedlicher Bereiche als Zuverlässigkeitsexperten aus, um als Promotoren die Qualitätsarbeit in den Bereichen zu befeuern.
7) Produkt- und Prozessreifeanforderungen sowie -kriterien in Projektmeilensteine integrieren
Ein Pharmaunternehmen sowie ein Automobil-OEM haben ihre PEP-Meilensteine von allgemeinen Projektzielgrößen um Produktreifegrade erweitert. Die Produktreifegrade wurden entlang der Produktarchitektur auf Eigenschafts- und Funktionsreifegrade heruntergebrochen. Diese werden in einer generischen Reifelogik synchronisiert und sind heute wesentliches Zielvereinbarungs-, Planungs- und Steuerungsinstrument zum inkrementellen Erlangen der Produktreife.

Weder die klassische Qualitätsarbeit noch die agile Produktentwicklung alleine scheinen geeignet, den aktuellen Anforderungen an Schnelligkeit, Innovation, Flexibilität und gleichzeitig Premium-Qualität gerecht zu werden. Bei jedem Projekt gilt es daher, abhängig von den marktseitigen, technologischen und organisationalen Herausforderungen individuell zu entscheiden, welcher Weg bei der Produktentwicklung einzuschlagen ist. Das heißt, welche Prozesse und Ansätze aus den beiden Welten am wirksamsten kombiniert werden können.
Interessanter Presseartikel zum Thema: “Qualität und Agilität kombinieren“, erschienen bei Automobilindustrie Online am 15.10. 2018
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