Fünf Schlüssel­fähigkeiten und Denkweisen für die erfolgreiche Entwicklung digitaler, vernetzter Systeme und Geschäftsmodelle

18/12/2018

Fünf Schlüsselfähigkeiten und Denkweisen für die erfolgreiche Entwicklung digitaler, vernetzter Systeme und Geschäftsmodelle

Der Schlüsseltrend „Digitalisierung“ treibt die Entwicklung vernetzter, cyber-physischer Systeme voran. Zukünftig wird der Wert eines Systems auf der Vernetzung mit anderen Systemen basieren und aus den sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Dadurch treten neue Fragestellungen in den Vordergrund, die bei der Entwicklung vernetzter Systeme berücksichtigt werden müssen:

  • Was sind die Kundenbedürfnisse bzw. die Use Cases der Kunden?
  • Wer ist der wirkliche Kunde? Anwender oder …?
  • Wie läuft die Customer Journey ab?
  • Welche Rolle spielt mein System in dieser Customer Journey?
  • In welchem Netzwerk agiert mein System bzw. muss mein System funktionieren?
  • Wie gewährleiste und beherrsche ich das einwandfreie Zusammenspiel meines Systems mit den anderen Systemen im Systemverbund, obwohl ich andere Systeme überhaupt nicht selbst beeinflussen kann?
  • Welchen Mehrwert kann ich mit meinen Kernkompetenzen anbieten, wenn ich selbst kein eigenes System in den Systemverbund einbringen kann?

Das Denken von der Kundenfragestellung her und in Systemverbünden wird ganz neue Bedeutung bekommen. Neue Fähigkeiten und Denkweisen werden benötigt. Die eigenen bisherigen Kernfähigkeiten/Kernkompetenzen müssen überdacht werden. Dabei muss eine Orientierung an den eigenen Stärken im Kontext des Systemverbunds stattfinden und zukunftsfähig interpretiert werden. Fehlende Fähigkeiten müssen strategisch akquiriert werden, einerseits um einen Mehrwert aus der Kombination verschiedener Fähigkeiten zu realisieren, aber auch um sich in Partnerschaften hinreichend differenzieren bzw. abgrenzen zu können. Verschlossene Einzelkämpfer werden es zunehmend schwerer haben, weiterhin Schritt mit der Dynamik und Geschwindigkeit im IoT (Internet of Things) halten zu können.

Kurz: Um sich als Unternehmen im digitalen Zeitalter behaupten zu können und um digitale, vernetzte Systeme und Geschäftsmodelle erfolgreich zu entwickeln, werden aus unserer Sicht fünf Schlüsselfähigkeiten und Denkweisen von besonderer Bedeutung sein:

  • Domänenübergreifendes Systemverständnis
  • Cross-funktionale Zusammenarbeit und differenzierende Kernkompetenzen (Network Capability)
  • Fail early, learn fast (oder die Fähigkeit aus Fehlern zu lernen)
  • Kultureller Wandel
  • Neue, kreative Geschäftsmodelle
Fünf Schlüsselfähigkeiten und Denkweisen
Abbildung 1: Fünf Schlüsselfähigkeiten und Denkweisen für die erfolgreiche Entwicklung digitaler, vernetzter Systeme und Geschäftsmodelle.

Domänenübergreifendes Systemverständnis

Für die Entwicklung von vernetzten Systemen ist ein domänenübergreifendes Systemverständnis essenziell. Die Systemarchitekten, die sich für solche Entwicklungsvorhaben verantwortlich zeigen, benötigen neben fundierter Erfahrung eine deutlich breitere Aufstellung in ihren Fähigkeiten (weg vom Spezialisten hin zum Generalisten), mit einem holistischen Blick auf den Systemverbund („System of Systems“, SoS) und einer greifbaren, visionären Idee für die aktuellen wie perspektivischen Funktionalitäten des Gesamtsystems.

Das beinhaltet u. a.:

  • Entwicklung skalierbarer System- und Plattformarchitekturen
  • Definition und Standardisierung zentraler architekturrelevanter Systemschnittstellen
  • Verständnis für die diversen Inputs und Outputs der jeweiligen Subsysteme
  • schlüssige Interpretation verfügbarer Daten und die wertstiftende Vernetzung artfremder Daten
  • innere funktionale Absicherung und wirksamer Schutz gegenüber Angriffen von außen

Abschließend geht es darum, den gesamten Systemverbund (SoS) in seinem Lebenszyklus zu begreifen und sachgemäß zu steuern.

Unterstützt werden kann das systemische Denken durch organisatorische Maßnahmen, wie beispielsweise konsequente Co-Location oder Etablieren von Lab-artigen Strukturen, in denen interdisziplinär, barrierefrei und schnell gearbeitet bzw. kommuniziert werden kann. Weiche Faktoren wie eine offene und wertschätzende Kommunikation erleichtern beispielsweise das Ausbalancieren von Zielkonflikten der Architektur im Systemverbund.

Cross-funktionale Zusammenarbeit und differenzierende Kernkompetenzen (Network Capability)

Die Vernetzung von Systemen eröffnet neue Möglichkeiten für die cross-funktionale Zusammenarbeit und erfordert gleichzeitig ein hohes Maß an Netzwerkfähigkeit*. Darunter verstehen wir, neue Ansätze für partnerschaftliche Kooperationen zielgerichtet anzuwenden, um die wachsende Komplexität und Geschwindigkeit zu beherrschen. Dies macht insbesondere eine Öffnung der meist immer noch sehr „geschlossenen“ agierenden Unternehmen notwendig. Diese Unternehmen müssen die Bereitschaft mitbringen, sich mit anderen „Spielern im System“ offen und interessiert auseinanderzusetzen, auch um sich mit „frischer DNA“ von außen anzureichern. Ein starkes Umdenken ist hierbei erforderlich, um diese verschlossenen Strukturen, die „vorherrschend dominante Logik“, wie wir sie nennen, aufzubrechen. Das geht soweit, dass das Kundenproblem stärker in den Fokus gerückt wird als das eigene Produkt bzw. System.

*engl. Network Capability nach Rasmus, beschreibt die Fähigkeit eines Unternehmens, Beziehungen zu externen Partnern aufzubauen, zu pflegen und zu nutzen

Die notwendigen Veränderungen im Denken hängen stark von der Unternehmenskultur ab. Der Führungsmannschaft kommt insofern eine wichtige Rolle zu, als dass sie dieses veränderte Denken von oben vorleben und einfordern muss. Stehen hinter den Worten auch wirkliche Taten und werden die Gründe für diesen Wandel („Warum müssen wir uns verändern?“) überzeugend erklärt, so stehen die Chancen gut, dass die eigene Mannschaft folgt.

Differenzierende Kernkompetenzen sind die Basis für gesunde Partnerschaften/Kooperationen. Jeder Spieler im Systemverbund hat einen wahrnehmbaren Mehrwert, ohne den das Gesamtsystem nicht die gleiche Leistung entfalten kann. Wie eingangs erläutert, gilt es, Fragen wie „Wo und wie will ich mich im Systemverbund positionieren? Was differenziert mich?“ zukunftsfähig und mit Blick auf den Systemverbund und im Kontext des IoT auszulegen. So begegnen sich die Kooperationspartner inhaltlich auf Augenhöhe, ohne Verleugnung der eigenen Stärken und Gefahr sich in der „Dream on“-Ecke zu befinden.

Hilfreich in neuen Kooperationen ist die Verständigung auf eine gemeinsame, einfache und effiziente Sprache mit offenen Standards, um in zunehmend virtuellen Umgebungen wirksam und effektiv kommunizieren und zusammenarbeiten zu können.

Ansprechpartner auf beiden Seiten benötigen gutes Partner- und Schnittstellenmanagement sowie ausgeprägte kollaborative Fähigkeiten. Die Bereitschaft, gemeinsame Standards zu schaffen und zu nutzen – auch mit im Wettbewerb stehenden Spielern – bis hin zur Verwendung offener Standards, wird ein Schlüssel zum Erfolg.

Fail early, learn fast (oder die Fähigkeit aus Fehlern zu lernen)

Im IoT und im Systemverbund zählen die Geschwindigkeit und die Wechselwirkung der einzelnen Spieler sowie die Fähigkeit, Lösungen schnell im Markt anbieten zu können. Diese Dynamik bzw. Geschwindigkeit kann zu Fehlschlägen führen, wobei der Umgang damit entscheidend ist. Fehlschläge müssen „normaler“ wahrgenommen und nicht als Katastrophe angesehen werden, sondern als Chance, etwas zu lernen und zu verbessern (und zukünftig zu vermeiden). Für Unternehmen ist das ohne Zweifel eine Kulturfrage. Unternehmen, die bereits agile Entwicklungsmethoden einsetzen bzw. Startups, sind hier den etablierten Unternehmen oftmals einen Schritt voraus.

Der Zeitpunkt der Fehleridentifikation ist ein wichtiger Aspekt. Je früher Fehler identifiziert werden, desto einfacher und kostenneutraler kann darauf reagiert werden. Im Umkehrschluss gilt, je später Fehler identifiziert werden, desto schwieriger und mit mehr Aufwand und Kosten ist die Fehlerbehebung verbunden (z. B. auf Grund von Wechselwirkungen oder der Komplexität des Systems). Deshalb ist eine frühe Fehleridentifikation gerade bei komplexen Systemen wichtig.

Iterative und kürzere Entwicklungszyklen ermöglichen eine schnelle und kontinuierliche Rückmeldung zum entwickelnden System bzw. Produkt. Attraktiv kann hierbei die systematische Einbindung von Kunden sein. Diese Rückmeldung, auch Kundenfeedback, ermöglicht es, schneller und früher auf (potenzielle) Fehler oder Missstände (z. B. Nicht-Funktionalität, Nicht-Qualität, Fehlverhalten, Schnittstellenprobleme etc.) zu reagieren und schneller bei der Lösungsfindung zu werden. Um die schnelle Reaktionsgeschwindigkeit effektiv zu nutzen, ist eine offene Fehlerkultur notwendig.

Kultureller Wandel

Um die eigene Wettbewerbsfähigkeit im IoT und im Systemverbund nachhaltig zu stärken, muss bewusst in die Ausbildung neuer Kompetenzen und Mindsets investiert werden. Es braucht einen kulturellen Wandel, bei dem drei Bereichen eine besondere Bedeutung zuteil wird, da sie direkten und langfristigen Mehrwert für das Unternehmen erzeugen und die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen:

  • Fokussierung auf das Kundenproblem
  • digitale Kultur
  • Empowered Teams und Servant Leaders

Für eine Fokussierung auf das Kundenproblem ist es wichtig, dass die Mitarbeiter die Fähigkeit besitzen, sich in die Probleme des Kunden hineinzudenken, um keine Scheinlösungen zu erarbeiten. Hinzu kommt, dass nicht jeder Kunde seine Probleme kennt oder sich deren bewusst ist, da er gewisse Gegebenheiten nicht anders kennt. Das Erlernen dieser Fähigkeit benötigt Zeit und setzt ein Umdenken voraus. Dies kann aktiv durch das Management unterstützt und vorgelebt werden.

Eine digitale Kultur ist durch enge Zusammenarbeit und Kooperation über organisatorische Grenzen hinweg, intensive Nutzung digitaler Hilfsmittel zur Kommunikation, hohe Motivation und Ergebnisorientierung, Flexibilität und Offenheit für Veränderungen sowie eine hohe Geschwindigkeit/„Drive“ gekennzeichnet. Die Herausforderungen der Führungskräfte liegen darin, trotz Wandel einen möglichst stabilen Rahmen für die Mitarbeiter zu schaffen. Hierfür eignen sich z. B. gemeinsame Rituale, einfache, aber klare Regeln oder das Schaffen einer Perspektive für jeden einzelnen. Demgegenüber stehen der Aufbau von Kombinationswissen* und die Verbreiterung des Wissensspektrums des Mitarbeiters, um die Komplexität und Vernetzung der digitalen Welt gestalten und beherrschen zu können. Ziel sollte es daher sein, dass jeder im Unternehmen die neue digitale Kultur versteht und mitträgt.

*Unter Kombinationswissen verstehen wir das Wissen, wie aus spezifischem Fachwissen Leistungen und Produkte kombiniert und organisiert werden können.

Mit der Entwicklung von Empowered Teams (autonom, selbstorganisiert) geht das Abgeben von Macht und Kontrolle durch das Management einher, d. h. weg von exzessiver Berichterstattung und direktivem Führungsstil. Denn nur dann kann ein Team auch Verantwortung übernehmen, sich frei entfalten und sich mit den einhergehenden Herausforderungen auseinandersetzen. Das Management wird bei diesem Wandel zum Servant Leader. Der Servant Leader führt das Team, indem er einerseits einen Rahmen für fokussiertes Arbeiten schafft und Barrieren zur Zielerreichung aus dem Weg räumt. Andererseits trifft er notwendige Entscheidungen. Dabei ist der Servant Leader kein „Feel Good Manager“. Seine Aufgabe besteht vor allem darin, die Mitarbeiter zu befähigen bzw. dafür zu sorgen, dass diese sich und das Unternehmen weiterentwickeln können.

Der notwendige kulturelle Wandel erstreckt sich aus unserer Erfahrung meist über einen längeren Zeitraum, weil er auf das Betriebsmodell (engl. „Operating Model“) einer Organisation wirkt. Es empfiehlt sich, derartige Veränderungen fundiert und systemisch zu begleiten.

Neue, kreative Geschäftsmodelle

Durch die Vernetzung von Systemen verschiebt sich der Fokus aktueller Geschäftsmodelle vom Einzelprodukt/-service auf den Systemverbund (SoS). Der Zugewinn an Funktionalität im Systemverbund kann zu ganz neuen Einsatzmöglichkeiten des Systemverbunds als auch zu einem gänzlich neuen Kundenwert führen. Auch neue „systemübergreifende“ Angebote für Diensteanbieter werden möglich, die mehrere Systeme nutzen, aber kein eigenes System entwickeln oder anbieten. Hierdurch kann sich das bisherige Geschäftsmodell verändern. Neue, kreative Geschäftsmodelle werden notwendig, um neue Märkte/Zielgruppen zu erschließen oder sich auf Grund von neuen Alleinstellungsmerkmalen zusätzliche Marktanteile bzw. Nutzer zu sichern.

Um neue kreative Geschäftsmodelle zu entwickeln, müssen einerseits Widerstände überwunden werden (z. B. existierende Grenzen und Rahmenbedingungen, vorhandene Denkweisen und Muster), um den Blick auf Neues zu erweitern und radikale oder disruptive „Out of the box“-Lösungen zu erarbeiten.

Andererseits muss die eigene Firmenkultur den Mitarbeitern auch erlauben, das eigene Geschäftsmodell zu hinterfragen oder ganz neu zu interpretieren.

Beides sollte durch das Management gefördert werden: z. B. durch genügend Freiraum der Mitarbeiter bei der kreativen Erarbeitung von möglichen Geschäftsmodellen oder z. B. durch eine offenere Fehlerkultur, die das Experimentieren und Hinterfragen, aber auch Fehlermachen erlaubt und nicht bestraft.

Zusammenfassung

Einzeln betrachtet, sind die fünf Schlüsselfähigkeiten und Denkweisen keine „Rocket Science“ und werden für sich oder in Teilen in vielen Unternehmen bereits angewendet. Der Mehrwert für das Unternehmen entsteht vielmehr aus dem harmonischen und nahtlosen Zusammenspiel der einzelnen Fähigkeiten. Das Unternehmen erreicht dadurch ein neues Reifelevel bzw. eine neue Ebene (Stufenfunktion) für die Entwicklung von vernetzten Systemen.

Die Herausforderung für ein Unternehmen besteht allerdings darin, die Fähigkeiten flächig zu stärken und sich in keinem essenziellen Bereich eklatante offene Flanken zu erlauben. Neben dem Bewusstsein der notwendigen Veränderung ist vor allem ein kultureller Wandel notwendig.

Der Organisationsapparat wird durch diese neue Art des Zusammenarbeitens ganz anders gefordert. Die Kernaufgabe für das Management besteht darin, die Transformation erfolgreich zu meistern; der Schlüssel wird sein, die Mitarbeiter auf diese Reise mitzunehmen und ein greifbares Big Picture zu vermitteln.

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Autor

Mark Gilbert

Mark Gilbert war Manager bei der 3DSE Management Consultants GmbH in München. Er hat über 7 Jahre Beratungserfahrung in der Gestaltung, Planung und Durchführung von Veränderungsprogrammen in der F&E. Seine Kernkompetenzen liegen insbesondere im Bereich der modularen Plattform- und Baukastenentwicklung und bei Transformationsprojekten auf Produkt-, Prozess- und Organisationsebene. Sein Branchenfokus liegt auf Automotive, Nutzfahrzeuge, Landtechnik, Motoren und Industrial.