Drei zentrale Herausforder­ungen und ihre Stellhebel, um F&E-Organisationen zukunftsfähig auf IoT-Geschäftsmodelle auszurichten

17/09/2019

Zentrale Stellhebel IOT

Das „IoT“ bzw. „Internet der Dinge“ ist ein klar erkennbarer Trend in nahezu allen entwickelnden und produzierenden Industrieunternehmen. Zahlreiche „klassische“ und produktorientierte Unternehmen befinden sich aktuell in der Situation, ihre Geschäftsmodelle neu zu definieren, um als Pionier neue Kunden und Märkte zu erobern oder aber um überhaupt sicherzustellen, nicht den Anschluss zu verlieren und die aktuelle Marktstellung zu verteidigen.

Mit dem IoT werden bisher einzelne, getrennte Systeme miteinander vernetzt, wodurch Chancen für neue Geschäftsmodelle, gesteigerten Kundenwert und optimierte Produktrealisierung entstehen. Das Feld des IoT ist breit gefächert und reicht von der Vernetzung von Geräten, Maschinen, Gütern bis zu der von Tieren, Pflanzen und Menschen. Typische Anwendungsfälle sind z. B.:

  • Smart Production/Industrie 4.0
  • Predictive Maintenance
  • Smart Grids
  • Connected Security Systems
  • Connected Health Care
  • Smart Mobility
  • Smart Retail
  • Smart Home/Buildings/City
  • Smart Goods Transport Infrastructure und weitere.

In IoT-Geschäftsmodellen rückt das klassische „Stand-Alone“-Produkt in den Hintergrund und bietet entweder die Plattform für ein Geschäftsmodell oder ist nur noch einer von mehreren Bestandteilen der Wertschöpfung. Hierbei wird ein IoT-Systemverbund häufig als „System of Systems“ im Zusammenwirken mehrerer Produkte eines Unternehmens oder der Produkte und Dienste mehrerer Unternehmen beziehungsweise Anbieter realisiert. Wesentlich ist dabei ein kollaborativer Charakter des Systemverbunds, oft ohne eindeutige, zentrale Hierarchie und evolutionäre, teilweise kaum gesteuerte Entwicklung.

Stellen Sie sich vor, Sie bilden als Automobil-OEM Infotainment-Funktionalitäten schwerpunktmäßig über Smartphone-Integration ab:

  • Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Gesamtsystem-Funktionen nach Software-Updates der Smartphone-Anbieter immer noch zuverlässig funktionieren?
  • Wird Ihr Kunde den Fehler bei Ihnen oder dem Smartphone-Hersteller vermuten, falls nach einem Update z. B. die Audioverbindung nicht mehr richtig funktioniert?

Für die F&E-Bereiche bedeutet der Schritt in Richtung IoT-Geschäftsmodelle, dass sie zukünftig stark über die Grenzen ihres eigenen Systems hinausdenken und sich fragen müssen: In welchem Verbund, in welchem Netzwerk mit anderen Systemen agiert mein System bzw. muss mein System funktionieren?

Neue Geschäftsmodelle in einem IoT-Kontext zu entwickeln und zu betreiben, stellt viele bis dato produktorientierte Unternehmen und damit auch deren F&E-Organisationen vor drei wesentliche Herausforderungen:

  • Kooperationen in IoT-Ökosystemen gestalten
  • User Experience zu einer Connected Experience erweitern
  • Das System of Systems technisch beherrschen
Drei Herausforderungen für eine zukunftsfähige F&E-Aufstellung im IoT-Kontext
Abbildung 1: Drei Herausforderungen für eine zukunftsfähige F&E-Aufstellung im IoT-Kontext.

Welche neuen Anforderungen ergeben sich daraus? Welche bestehenden Stärken sollten produktorientierte Unternehmen in der F&E heute nutzen und ausbauen?

Um für Ihre F&E-Organisation den Übergang aus einer Produktorientierung in ein IoT-Umfeld meistern zu können, empfehlen wir, die folgenden Stoßrichtungen auszuprägen:

Stellhebel zur Bewältigung der drei Herausforderungen für die zukunftsfähige Ausrichtung von F&E-Organisationen auf IoT-Geschäftsmodelle
Tabelle 1: Stellhebel zur Bewältigung der drei Herausforderungen für die zukunftsfähige Ausrichtung von F&E-Organisationen auf IoT-Geschäftsmodelle.

Kooperationen in IoT-Ökosystemen gestalten

Bevor man auf die Suche nach potenziellen Geschäftsmodellen und Kooperationspartnern geht, sollte man sich zunächst über die aktuelle Situation, die Stärken/Schwächen und den Weg des eigenen Unternehmens bewusst werden:

  • Wo sind die eigenen, aktuellen Systemgrenzen?
  • Welches ist das Kundenwertversprechen?
  • Wohin soll sich das Unternehmen entwickeln?

Ist dieses Baselining abgeschlossen, können anschließend passende Partner ausfindig gemacht und mit klaren Erwartungen bzw. Angeboten überzeugt werden. Jedoch führt diese Herangehensweise nicht automatisch zu Kooperationen, denn geeignete Partner müssen mit interessanten Anreizen und synergetischen Beiträgen zu einer dauerhaften Partnerschaft überzeugt werden. Hierbei ist es wichtig, sowohl das eigene Unternehmen als auch mögliche Kooperationspartner realistisch einzuschätzen, um die eigenen Motive und Kernkompetenzen sinnvoll mit dem Gegenüber zu kombinieren. Gerade die Definition der eigenen Kompetenzen ist wichtig, denn erstens helfen diese, das Interesse von potenziellen Kooperationspartnern zu wecken, es zeigt aber oftmals auch klar auf, wo das eigene Unternehmen noch Lücken hat. Macht man diese Übung nun auch mit einem denkbaren Partner, so kann man einen etwaigen Fit feststellen. Man kann jedoch auch zu dem Schluss kommen, dass es vielleicht doch möglich ist, sich fehlende Eigenschaften selbst anzueignen.

Darüber hinaus ist es von essenzieller Bedeutung, dass das Unternehmen als Ganzes dazu bereit ist, Partnerschaften einzugehen, um kraftraubende interne Widerstände so gering wie möglich zu halten. Aufgrund dessen sollte die Unternehmenskultur mit einem probaten Kooperationswillen ausgestattet werden und geeignete, dedizierte Rollen und Fähigkeiten für die Netzwerk- und Systemverbundgestaltung etabliert werden. Vor allem das Top-Management muss hier als Vorbild und Unterstützer fungieren und Committment, kooperatives Mindset und Engagement fördern. Anschließend wird es notwendig, durch eine gesteuerte Kooperations- und Netzwerkentwicklung mit Lobbyarbeit nachhaltig in Kontakt und Austausch zu bleiben, um den gewünschten Partner nicht an etwaige Wettbewerber zu verlieren.

Zum Beispiel konnte die Robert Bosch GmbH mit eCall (automatischer Notruf für Fahrzeuge) durch Partnerschaften und Vereinbarungen mit Automobil-OEMs, Behörden, Mobilfunkanbietern und Rettungsdiensten ein Ökosystem gestalten, das aus dem eigentlichen eCall-Modul erst ein Serviceangebot werden lässt.

Auch Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen wie die BMW AG mit DriveNow oder die Daimler AG mit Car2go erweitern ihr Kernprodukt Fahrzeug über Vertragspartnerschaften mit Kommunen, Leasingunternehmen und Mobilfunkanbietern zu einer Mobilitätsdienstleistung.

Leseempfehlung

User Experience zu einer Connected Experience erweitern

Ein Besuch auf der CES (Consumer Electronics Show) reicht, um festzustellen, dass nicht alle neuen IoT-Produkte einen offensichtlichen Kundennutzen bieten: Kaffeemaschinen, die über eine App am Handy gesteuert werden, anstatt einen simplen Knopf an der Maschine zu drücken, „connected“ Zahnbürsten mit Videofunktion etc.

Auch wenn viele Ideen tatsächlich einen Mehrwert versprechen, hapert es anschließend teilweise an der Umsetzung, weswegen der wahrgenommene Kundennutzen letztendlich in Frage gestellt werden kann. Die Herausforderung ist daher, dort IoT anzubieten, wo es dem Kunden auch einen klaren Mehrwert bietet. Und diesen Mehrwert anschließend sauber und vollständig zu realisieren.

Doch was heißt vollständige Realisation des Mehrwerts? Das bedeutet, den ganzen Product Lifecycle und auch die Umgebung des Kunden zu betrachten:

  • Wie oft und wann werden Updates auf das Produkt aufgespielt?
  • Ist zu erwarten, dass der Kunde zu den geplanten Zeiten im Netz online ist?
  • Verwendet der Kunde das Produkt überhaupt in einer Netzumgebung (z. B. zu Hause) oder nimmt er es evtl. zu Ausflügen mit, bei denen oftmals keine volle Netzabdeckung gewährleistet ist?

Unternehmen müssen sich daher auch im IoT-Zeitalter auf zwei wesentliche Faktoren konzentrieren, um ein nachhaltiges Geschäftsmodell zu etablieren: Neben einer absoluten Kundenorientierung und der Fokussierung auf Kundenerleben (UX) muss vor allem auch die Vermeidung von Nicht-Qualität im Zentrum stehen. Im Unterschied zu früher wird der Kundennutzen heute nicht nur für das eigene Produkt betrachtet, sondern für das gesamte Ökosystem bzw. den angebotenen Service. Eine der grundlegenden Notwendigkeiten hierfür ist ein klares, verständliches, aber auch adaptierbares und gegebenenfalls gestuftes Geschäftsmodell, das die Kooperationspartner integriert und sich schrittweise erweitert. Die einzelnen Organisationen müssen die Fähigkeiten besitzen, dynamisch auf sich verändernde Rahmenbedingungen zu reagieren. Um für die Partner dabei unverzichtbar zu werden, gilt es, die Kundenschnittstelle als Erster zu besetzenGeschwindigkeit ist und bleibt einer der wichtigsten Schlüsselerfolgsfaktoren.

Ein Beispiel für eine Connected Experience ist der sich wandelnde Gütertransport. Dort werden bestehende Produkte und Services zunehmend erfolgreich um digitale Features erweitert. Continental Nutzfahrzeugreifen sind beispielsweise mit Sensoren versehen, die kontinuierlich den Reifendruck messen und dem Spediteur über eine IoT-Plattform Transparenz über den Zustand der Flotte geben. So kann der Disponent schon reagieren, bevor der Reifenschaden passiert und den Fahrer gegebenenfalls in die Werkstatt schicken sowie seine Kunden über etwaige Verspätungen informieren. Auch SBB Cargo hat sich zum Ziel gesetzt, die Transparenz im Schienengüterverkehr zu erhöhen und stattet deswegen Güterwaggons mit passender Sensorik aus. Mittels einer kostenpflichtigen IoT-Plattform wird so ein ständiges Lokalisieren des Transports ermöglicht. Beide Beispiele zeigen auf, dass auch nach dem Verkauf des eigentlichen Produktes noch Umsatz mit hilfreichen Services generiert werden kann.

Leseempfehlung

System of Systems technisch beherrschen

Unternehmen entwickeln meist nicht eine komplette System of Systems-Landschaft, sondern setzen mit ihren Produkten oder Services auf bestehende Systeme auf. Wie bereits eingangs erwähnt, liegt die heutige Herausforderung darin, diese zu integrieren und aus der Kombination einen Kundenmehrwert zu generieren. Die entstandenen Systemverbunde verlangen daher nach einem übergreifenden Qualitäts- und Risikomanagement, das alle Schnittstellen mit Kooperationspartnern berücksichtigt und Verhaltensweisen der Partner und deren Systeme kontinuierlich analysiert und versucht zu prognostizieren.

Beim finalen Produkt darf der Kunde nicht das Gefühl bekommen, ein „zusammengewürfeltes“ Produkt zu erwerben, d. h., die Connectivity und die gesamte Servicerealisierung müssen reibungslos ineinandergreifen. Bei der Entwicklung der Systeme steht daher deren Funktionalität, Einfachheit und Kompatibilität im Fokus. Zur Komposition der verteilten Service- und Geschäftsmodelle ist eine Erweiterung der Architekturarbeit auf das gesamte „System of Systems“-Netzwerk notwendig.

Diese erweiterte Architekturarbeit bringt auch neue Anforderungen wie erweitertes Abstraktionsvermögen und „Empathie“ für cross-funktionale Sichtweisen mit sich. Unternehmen sind gefordert, in das Erkennen, Auf- und Ausbauen der für die Zukunft notwendigen Kompetenzen zu investieren und eine lernende Organisation zu gestalten.

Apple ist zum Beispiel ein Pionier beim Realisieren von stimmig zusammenspielenden Teilsystemen wie iPhones, iCloud und iTunes zu einer „Connected Experience“. Eine Erfolgsstrategie dabei war ein durchgängig entwickelter und in sich abgestimmter Systemverbund aus einem Guss, allerdings bei gleichzeitiger Abgrenzung zur Außenwelt über proprietäre Schnittstellen.

Mit einem offenen Ansatz ist das Start-up TADO erfolgreich, welches sein Geschäftsmodell auf die Systemarchitektur anderer Anbieter aufsetzt. TADO hat sich mit einer einfachen, intelligenten Thermostat-Lösung, die hilft, Heizungskosten zu sparen, immer mehr etabliert und sich zwischen die Heizungsanbieter und den Endkunden geschoben. TADO Thermostate integrieren sich mit maximal flexiblen und offenen Schnittstellen in bestehende Heizungssysteme.

Fazit

Neben der Betrachtung von „neuen“ Erfolgsmustern empfehlen wir in einem Transitionsprozess genauso, die eigenen Kernkompetenzen, die zum Erfolg des bisherigen Produktangebots geführt haben, zu bewerten, zu stärken und zu nutzen. Dies erfordert auch die evolutionäre oder auch radikale Weiterentwicklung von bisherigen Entwicklungsmethoden, Unternehmensprozessen und Organisationsmodellen sowie Führungsverständnis. Erfolgskritisch wird aber vor allem sein, das Spiel als „Spinne im Netz“ geschickt zu spielen, d. h., Kooperationen effektiv zu gestalten und dabei das richtige Maß an Öffnung, Sicherung und Abgrenzung des eigenen Systems bzw. Unternehmens zum Kontext zu finden.

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Autor

Sebastian Maerkl
Sebastian Märkl

Sebastian Märkl ist Manager und Practice Leader „Systems Engineering“ bei der 3DSE Management Consultants GmbH in München und berät seit mehr als 10 Jahren Unternehmen in der Optimierung der F&E. Als Berater und Trainer liegen seine Schwerpunkte in der Einführung von Systems Engineering, Produktarchitektur, Modularisierung und Variantenmanagement, Organisations- und Prozess-Gestaltung, Präventive Qualität sowie Projekt- und Programm-Management. Sein Branchenfokus liegt in den Bereichen Automobil, Nutzfahrzeug, Luft- & Raumfahrt und Medizintechnik.

Nathalie Holdry

Nathalie Holdry war Senior Consultant bei der 3DSE Management Consultants GmbH in München. Mit über vier Jahren Beratungserfahrung berät sie Firmen bei der Transformation und Gestaltung Ihrer F&E, um heutigen sowie zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden. Ihre Kernkompetenzen liegen dabei im Varianten- und Komplexitätsmanagement, in Plattformstrategien sowie in der agilen und digitalen Transforamtion der F&E. Ihre breite Industrie-Expertise erstreckt sich über Automotive (Nutzfahrzeuge, landwirtschaftliche Fahrzeuge), Raumfahrt, Industrial sowie den Schienenfahrzeugsektor.