Wie verschlanke ich meine F&E?
11/03/2020

Abstract
Die zunehmende Komplexität und Vernetzung von Produkten führen oft zu immer komplexeren Produktentwicklungsprozessen. Die LEAN-Philosophie, die nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Produktentwicklung unter dem Schlagwort LEAN Engineering angewendet wird, ermöglicht eine ganzheitliche Verschlankung der F&E im Unternehmen, um sich zukünftigen Herausforderungen zu stellen.
Der LEAN-Gedanke basiert darauf, den Kunden den größtmöglichen Wert zu liefern und dabei jegliche Verschwendung zu vermeiden. Durch Anwendung von LEAN-Methoden in der F&E ist es möglich, die Effizienz zu erhöhen, Einsparpotenziale zu realisieren sowie Produkte mit höherem Marktwert zu entwickeln und schneller auf den Markt zu bringen.
Um auf einem globalen Markt auch zukünftig bestehen zu können, sind Effizienzsteigerungen für Unternehmen unerlässlich. Die richtigen Ansatzpunkte für solche Steigerungen findet man meist in der F&E-Organisation und im Entwicklungsprozess der immer komplexer werdenden Produkte. Um in der Produktentwicklung im hochkompetitiven, internationalen Umfeld schnell, flexibel und innovativ zu bleiben, ist zu beobachten, dass Unternehmen jeder Größe unter anderem folgende Stoßrichtungen verfolgen:
- Systems Engineering
- agile Produktentwicklung und
- LEAN Engineering
Die LEAN-Philosophie ist insbesondere im Produktionsbereich seit Jahrzehnten etabliert und steht in enger Verbindung mit dem Toyota Production System (OHNO, 1988). Durch den Einsatz von LEAN-Methoden im Engineering lassen sich diese in der Produktion nachgewiesenen Optimierungseffekte auch in den immer komplexer werdenden Entwicklungsprozessen heben.
Was jedoch genau hinter dem Begriff LEAN Engineering steckt, wie sich eine LEAN-Philosophie in der F&E entwickeln lässt und welche Methoden in der Produktentwicklung einzusetzen sind, stellt viele Unternehmen vor offene Fragen.
Was bedeutet LEAN?
Und was bedeutet LEAN Engineering?
Die Kernidee der LEAN-Philosophie, welche aus der japanischen Automobilindustrie stammt, basiert darauf, den Kunden den größtmöglichen Wert zu liefern und gleichzeitig jegliche Verschwendung zu vermeiden. LEAN bedeutet simplifiziert, mehr Kundenzufriedenheit mit weniger Ressourcen zu schaffen und ist als Denkweise zu verstehen. Diese Denkweise basiert auf fünf Prinzipien, welche einen kontinuierlichen, nie abgeschlossenen Prozess darstellen (WOMACK & JONES, 2003, S. 15ff.). Dabei ist es auch möglich, diese fünf LEAN-Prinzipien auf die F&E zu übertragen (MOLL, 2016, S. 582ff.) (siehe Abbildung 1).

Bei der Betrachtung der LEAN-Philosophie im Kontext der F&E ist darauf zu achten, dass sich die Produktentwicklung von der Fertigung deutlich unterscheidet. Während in der Fertigung jeder Arbeitsschritt sichtbar und das Ziel klar definiert ist, liegt während des Entwicklungsprozesses der Fokus darauf, Informationen zu erstellen, zu sammeln, auszuwerten und gleichzeitig Risiken und Unsicherheiten zu reduzieren. Ziel ist es, ein neues, fehlerfreies Produkt schrittweise mit geplanten Iterationen zu entwickeln und durch die Fertigung hin zu einem marktfähigen Produkt zu realisieren. Auf welchem Weg dieses Ziel jedoch erreicht wird, ist zu Beginn einer Entwicklung nicht definiert. Durch die Anwendung der fünf LEAN-Prinzipien kann die Effizienz der F&E erhöht, Einsparpotenziale realisiert sowie Produkte mit höherem Marktwert entwickelt und schneller auf den Markt gebracht werden. Im Folgenden wird die Anwendung der LEAN-Prinzipien im Kontext der F&E näher erläutert und Methoden zur Umsetzung beispielhaft aufgezeigt.
Was verbirgt sich hinter den LEAN-Prinzipien und wie kann ich diese im Engineering anwenden?
Prinzip 1: Wert identifizieren
Der Wert eines Produkts wird ausschließlich vom Kunden definiert, denn Produkte sind nur dann erfolgreich, wenn sie den Bedürfnissen der Kunden entsprechen. Aus diesem Grund ist es besonders in der F&E erforderlich, eine Wertspezifikation aus Kundensicht durchzuführen, 1. Wert identifizieren LEAN 2. Wertstrom abbilden 3. Fluss schaffen 4. Pull ermöglichen 5. Nach Perfektion streben um die Bedürfnisse bestmöglich zu erfüllen. Dabei ist in der Produktentwicklung nicht nur der Endverbraucher derjenige, der den Wert definiert, sondern verschiedenste Stakeholder spielen 4 hier eine Rolle, beispielsweise Behörden. Insbesondere muss hier auf die internen Stakeholder geachtet werden, die zeitgerecht qualitativ hochwertige und passende Entwicklungsergebnisse benötigen, um durch einen nächsten Entwicklungsschritt Mehrwert im Entwicklungsprozess zu schaffen. Ein Beispiel für eine interne Kundenbeziehung stellt die integrierte Produkt- und Prozessentwicklung dar, welche unmittelbar sicherstellt, dass das Entwickelte auch gefertigt werden kann.
Die Schwierigkeit, insbesondere bei disruptiven Innovationen, ist es, dass die Kunden den Wert einer Innovation nicht beschreiben können, bevor diese tatsächlich vor ihnen liegt. Eine konkrete Methode zum Identifizieren des Kundenwertes für den Endkunden stellt beispielsweise die Anwendung des KANO-Modells dar. In diesem Modell können neben Minimal- und Basisanforderungen auch Begeisterungsfaktoren aus Kundensicht erörtert werden. Des Weiteren ist Produktentwicklung gemeinsam mit dem Kunden im Rahmen von Co-Development (z. B. User-Interface-Gestaltung) oder Design Thinking ein wirksames Mittel, um den Endkundenwert zu optimieren.
Prinzip 2: Wertstrom abbilden
Nur wertschöpfende Aktivitäten erzeugen einen Kundennutzen im Sinne der LEAN-Philosophie. Alle anderen nicht wertschöpfenden Tätigkeiten stellen Verschwendungen (Waste) dar und müssen beseitigt oder vermieden werden. Um diese Verschwendungen in der F&E sichtbar zu machen, ist es notwendig, den Wertstrom, welcher im Engineering in erster Linie darin besteht, Informationen, Wissen und Insights zu schaffen, abzubilden. Im selben Zuge sind diejenigen Schritte zu reduzieren, die keinen Mehrwert schaffen. Vorher muss insbesondere in der frühen Projektphase das Risiko bei den gegebenen Umständen, besonders bei einem hohen Grad an Unsicherheit, hinterfragt werden. Es kann durchaus sein und ist sogar wichtig, Hochrisikoprojekte nicht durchzuführen und diese bereits in der frühen Phase zu beenden, um sich im Folgenden auf die für das Unternehmen wirklich wertschöpfenden Themen zu fokussieren und keine wichtigen Ressourcen zu verschwenden.
Eine Methode, um während der Entwicklung die Wertgenerierung im Entwicklungsteam transparent darzustellen und zu analysieren, ist eine gesamtheitliche Wertstromanalyse. Diese offenbart die zahlreichen Verschwendungen, indem die in der Produktentwicklung erzeugten Informationen und Prozesse analysiert werden. Hintergrund ist, dass sich die tatsächliche Wertschöpfungszeit und Gesamtzeit der Entwicklungstätigkeiten in der Regel erheblich unterscheiden und mittels Wertstromanalyse ein aktueller Wertstromquotient (Verhältnis aus Durchlaufzeit und Prozesszeit) ausgeleitet werden kann. Diese Methode bildet den Wertstrom in der F&E transparent ab und legt Verschwendungen offen.
Der Aufbau der Entwicklungstätigkeiten in Reifegraden ist ebenso eine viel genutzte Methode, die direkt auf die aktuellen Tätigkeiten anzuwenden ist. Ein Reifegradmodell gibt dabei Transparenz, wann ein bestimmter Produktreifegrad mit bestimmten Funktionen und Eigenschaften des Produkts erreicht werden soll und gibt so einen bestimmten Wertstrom vor.
Prinzip 3: Fluss schaffen
Wert wird ideal und kostenoptimal generiert, wenn der Wertstrom ungehindert, ohne Verschwendung, durch das Engineering des Unternehmens fließt (frei von Stapeln und Puffern, ohne Genehmigungswartezeiten etc.). „Stop and Go“ von Aufgaben, Daten und Informationen sollte vermieden werden. Basierend auf den identifizierten Wertströmen ist das Zielbild des LEAN Engineerings ein ununterbrochener Wertfluss in der F&E. Dabei sollen die wertschaffenden Schritte in enger Abfolge durchgeführt werden, sodass das Produkt reibungsfrei ohne Verschwendung zum nächstfolgenden (internen) Kunden fließt. Das Prinzip des Flusses geht also mit dem Prinzip des Wertstroms einher. Zudem ist dieses Prinzip auch eng mit der Warteschlangentheorie verbunden, welche besagt, dass je kleiner die gebildeten Arbeitsstapel, desto kürzer die Warteschlangen und desto ungehinderter der Wertfluss im Unternehmen. Dies bedeutet jedoch nicht, eine 100%-Auslastung anzustreben, denn in einer volatilen, unsicheren und komplexen Welt muss es weiterhin möglich sein, auf Unvorhergesehenes zu reagieren, ohne dabei den Fluss zu unterbrechen. Wichtig ist, die F&E als Gesamtsystem aufzufassen und sich auf Kapazitäten und Fähigkeiten zu konzentrieren, um Fluss zu erreichen und etwaige „Bottlenecks“ zu optimieren. Ein Beispiel ist hier die Überlastung von Schlüsselressourcen, die folglich zu Verzögerungen des gesamten Entwicklungsprozesses führen.
Die ständige Optimierung des Verhältnisses aus Durchlaufzeit und Prozesszeit (Wertstromquotient) ist ein wesentlicher Bestandteil des LEAN Engineerings. Das Ziel ist, dass am Ende möglichst wenige nicht wertschöpfende Schritte verbleiben. Verschwendung im Engineering ist dabei definiert als jede Aktivität, jeder Prozess oder jedes Produkt, das keinen Mehrwert für den internen oder externen Kunden liefert. Typischerweise werden im Engineering acht unterschiedliche Arten von Verschwendung unterschieden, die es zu eliminieren gilt, um ungehinderten Fluss zu schaffen (siehe Abbildung 2).
Prinzip 4: Pull ermöglichen
Das Pull-Prinzip im LEAN Engineering besagt, dass bei hergestelltem Fluss die (internen und externen) Kunden den Wert aus der nächsten „flussaufwärts“ gelegenen Aktivität beziehen. Dies bedeutet, dass Entwicklungsaktivitäten erst bei Bedarf bzw. auf Anfrage angestoßen und gesteuert werden. Ein Pull-System ermöglicht somit durch kleinere Arbeitspakete die Reduzierung der Verschwendung im Entwicklungsprozess und steht in enger Wechselwirkung zum Fluss-Prinzip.
Der Vorteil des Pull-Prinzips besteht darin, dass ein gleichmäßiger Fluss erzeugt wird, wohingegen Push-Systeme die Kapazität überlasten, zu Unruhe, Verzögerung und somit Verschwendung führen. Hintergrund ist, dass Push-Systeme auf einem erwarteten Bedarf basieren, der möglicherweise nicht mit dem tatsächlichen Bedarf übereinstimmt. Ein Beispiel aus der Entwicklung wäre die Erstellung von Konstruktionsunterlagen, ohne zu wissen, zu welchem Zeitpunkt diese genau z. B. vom Einkauf oder der Fertigung benötigt werden. Eine Synchronisation ist hier notwendig, um Mehraufwände zu vermeiden.
Insbesondere die agile Produktentwicklung basiert auf dem Pull-Prinzip. Dabei stellt ein Kanban Board eine einfache Methode dar, um den Wertfluss im Entwicklungsteam darzustellen und gleichzeitig das Pull-Prinzip zu verfolgen. Das Kanban Board legt, mit eindeutig zugewiesenen Verantwortlichkeiten, die aktuellen Tätigkeiten transparent offen, ermöglicht schnelles Feedback und limitiert die „Work in Progress“, was ansonsten zu einer Stapelbildung und damit Verschwendung führt. Eine Aufgabe darf im Sinne des Pull-Prinzips nur dann „in Bearbeitung“ sein, wenn konkreter Bedarf besteht.
Prinzip 5: Nach Perfektion streben
Wenn der Kundenmehrwert bestimmt, Wertströme abgebildet, überflüssige Schritte entfernt und Fluss sowie Pull hergestellt sind, wird dieser Prozess im Sinne der LEAN-Philosophie erneut angestoßen und fortgeführt. Das Zielbild des LEAN Engineerings ist ein Zustand der Perfektion, in dem perfekter Wert ohne Verschwendung geschaffen wird. Jede erreichte Verbesserung ist dabei nur die Grundlage für die nächste Verbesserung, was einen fortlaufenden Prozess darstellt, der im LEAN Engineering als „kontinuierlicher Verbesserungsprozess“ verankert ist.
Dieses Zielbild der Perfektion im LEAN Engineering ist meist in Zeiten hoher Unsicherheit nicht abbildbar. Der Pareto-Effekt oder auch 80/20-Regel genannt, besagt dass 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erreicht werden. Analog zu diesem Prinzip ist es heute entscheidend, innerhalb kurzer Zeit ein Minimal Viable Product (MVP) zu entwickeln und dieses frühzeitig von Kunden validieren zu lassen.
Nichtsdestotrotz gibt es jederzeit und überall die Möglichkeit noch besser zu werden, denn keine Verbesserung kann so umfassend sein, dass sie nicht weiter verbessert werden könnte. Zudem ist festzuhalten, dass, obwohl Perfektion niemals erreicht werden kann, es im Sinne des LEAN-Gedankens fundamental ist, danach zu streben. Im Japanischen wird diese Denkweise als stetigen, iterativen Verbesserung als Standards im Unternehmen zu etablieren, um insgesamt KAIZEN oder „Verbesserung in kleinen Schritten“ bezeichnet. Es gilt, die Prozesse zur stetigen, iterativen Verbesserung als Standards im Unternehmen zu etablieren, um insgesamt ein immer höheres Level, beispielsweise an Produktivität, Qualität oder Kundenzufriedenheit, in der Entwicklung zu erreichen.
Wichtig ist, diese Verbesserungen im Engineering mittels Key Performance Indicators (KPIs) messbar zu machen, denn nur was messbar ist, kann auch nachhaltig verbessert werden. Um dieses Prinzip umzusetzen, eignet es sich, einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Engineering zu etablieren und Methoden wie PDCA (Plan-Do-Check-Act) oder KVP (kontinuierlicher Verbesserungsprozess) Boards im Engineering zu verankern. Diese KVP Boards bieten die Möglichkeit, Verbesserungen zu visualisieren und so transparent zu machen. Auch können bestimmte Verbesserungsziele, beispielsweise eine 5%-Effizienzsteigerung pro Jahr, an Engineering-Abteilungen ausgegeben werden, um eine nachhaltige, kontinuierliche Verbesserung hervorzurufen.
Fazit
Durch Anwendung von LEAN-Methoden in der F&E ist es möglich, die Effizienz zu erhöhen, Einsparpotenziale zu heben sowie Produkte mit höherem Marktwert zu entwickeln und schneller auf den Markt zu bringen.
In diesem Kontext betrachtet, gilt es an mehreren Stellschrauben zu drehen, um die F&E ganzheitlich zu verschlanken:
- LEAN im Engineering zu verankern, ist kein einmaliges Projekt, sondern eine grundlegende Denkweise, welche es zu etablieren gilt. Dieses LEAN Mindset muss von allen an der Produktentwicklung Beteiligten gelebt und daher breit im Unternehmen gestreut werden.
- LEAN Engineering ist als kontinuierlicher Verbesserungsprozess in den Engineering-Abteilungen zu verankern. Dabei gilt es die Transparenz im Engineering zu steigern, durch geeignete Methoden aktiv Verschwendungen zu eliminieren und neue Verbesserungen zu implementieren.
- Im LEAN Engineering steht Nachhaltigkeit im Sinne von Messbarkeit mittels KPIs und Standardisierung von Prozessen im Fokus. Nur so ist es möglich, kontinuierliche Verbesserung hin zur Perfektion zu erreichen.
Quellen:
OHNO, TAIICHI: Toyota Production System; Productivity Press, 1988 New York, USA
WOMACK, JAMES P.; JONES, DANIEL T.: Lean Thinking; Free Press, 2003 New York, USA
BAUCH, CHRISTOPH: Lean Product Development: Making waste transparent; Diploma Thesis Massachusetts Institute of Technology und Technische Universität München, 2004 München, Deutschland
MOLL, KLAUS: Lean Development; S. 571–620; LINDEMANN, UDO (Hg.): Handbuch Produktentwicklung; Verlag Carl Hanser, 2016 München, Deutschland
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Autor

Tobias Mittermeier
Tobias Mittermeier war Consultant bei der 3DSE Management Consultants GmbH in München. Mit über 4 Jahren Beratungserfahrung in der Forschung und Entwicklung besitzt er fundierte Branchenkenntnisse u. a. in Automotive, Transportation, Aerospace und Defence & Security. Seine Kernkompetenzen liegen dabei im Varianten- und Komplexitätsmanagement, Systems- und LEAN-Engineering sowie Projekt- und Programmmanagement. Seine Qualifikationen als Scrum Master und Innovation Cell® GreenBelt runden sein Profil ab.